Thure von Uexküll
Placebo, die Gretchenfrage der Meditin
Video der Kölner Vorlesung von Thure von Uexküll in der Klinik für Psychosomatik
Am 16.06.1999 hielt Herr von Uexküll 91-jährig seinen Vortrag "Placebo - die Gretchenfrage der Medizin?" im Rahmen unserer Ringvorlesung. 90 min., Farbe
Interview
Das Interview mit Thure von Uexküll ist ein Ausschnitt des Films "Unbemerkte Wirklichkeit", der sich mit dem Leben und Schaffen von Jakob von Uexküll beschäftigt.
Maximiliane Mainka 1990, 90 min., Farbe
Wer will schon krank sein auf der Welt
Video von Karl Koehle und Marion Mainka
Die Ulmer Station
Der Film beschreibt den Alltag auf der internistisch-psychosomatischen Modell-Station im Ulmer Universitätsklinikum. Dabei kommen sowohl Patienten als auch die Ärzte zu Wort. Chefarzt dieser Station war Prof. Thure von Uexküll.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht ein Patient mit herzbezogener Angst.
Maximiliane Mainka, Karl Köhle 1975, 90 min., Farbe
Wie sicher ist die Wirklichkeit
Paul Watzlawik, Milan Sladek, Karl Köhle
Video der Klinik für Psychosomatische Medizin
Der Film behandelt auf leicht nachvollziehbare Weise den Verständnisansatz des Konstruktivismus. Dabei werden historische Zitate und alltägliche Beispiele zur Illustration der Thematik herangezogen.
IPP und Dr. Dieter Berger 1996, 15 min., Farbe
Deutsche Krebhilfe
Themen Schwerstkranker am Lebensende
Palliativmedizin, Vortrag und Patientenfilme
Freiburger Interview mit Uexküll
Video von Marion Mainka
Thure von Uexküll in einem sehr persönlichen Interview. Erinnerung des Sohnes an Jakob von Uexküll
Inhaltsverzeichnis Uexküll Psychosomatische Medizin
Theoretische Grundlagen
Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell,
Thure von Uexküll† und Wolfgang Wesiack
Biologische Grundlagen der Anpassung und ihre Entwicklung
Biologische Grundlagen der Anpassung und ihre Entwicklung – Einführung, Burghard F. Klapp und Eva M.J. Peters
Genetik
Epigenetik: Neues zur Anlage-/Umweltdiskussion, Klaus Zerres
Genetik der sog. psychogenen Erkrankungen, Heinz Schepank und Marcella Rietschel
Neurobiologie, Manfred E. Beutel
Psychoneuroendokrinologie, Eva Fries, Dirk H. Hellhammer, Hendrik Lehnert und Clemens Kirschbaum
Psychoneuroimmunologie, Christian Schubert, Kurt S. Zänker, Bernd Niggemann und Gerhard Schüßler
Psychophysiologie, Frank H. Wilhelm und Paul Grossman
Psychologische Grundlagen der Anpassung und ihre Entwicklung
Psychologische Grundlagen der Anpassung, und ihre Entwicklung – Einführung Karl Köhle
Psychoanalyse und Psychosomatik, Rolf H. Adler
Bindungstheorie, Karl Heinz Brisch
Lernpsychologische Grundlagen, Jürgen Hoyer, Stefan Uhmann und Volker Köllner
Entwicklungspsychologie: Kindheit, Kai von Klitzing
Entwicklungspsychologie: Jugend, Inge Seiffge-Krenke
Entwicklungspsychologie: Alter, Gereon Heuft
Frühe zeitgeschichtliche Erfahrungen und lebenslange Auswirkungen
Kriegsgeneration, Hartmut Radebold
Transgenerationale Folgen des Holocausts, Ilany Kogan
Körpererleben, Peter Joraschky und Karin Pöhlmann
Emotion als Mittler zwischen Individuum und Umwelt, Rainer Krause
Verlust und Trauer, Hans-Peter Hartmann, Manfred Beutel und Wolfgang E. Milch
Schmerz, Rolf H. Adler
Pharmakotherapie bei Schmerzzuständen, Rolf H. Adler und Gerhard Paar
Alexithymie, Claudia Subic-Wrana und Richard D. Lane
Soziale Grundlagen von Anpassung und Entwicklung
Soziale Umwelt und ihr Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden von Säugetieren, Dietrich von Holst
Medizinische Kulturanthropologie, Ludger Albers
Migration und Krankheit, Marzio E.E. Sabbioni
Arbeit, Gesundheit und Krankheit, Johannes Siegrist
Gender, Judith Alder und Johannes Bitzer
Diagnostik
ICD-10 und DSM-IV – eine kritische Stellungnahme, Jörg Michael Herrmann, Dieter Nitzgen, und Marianne Holzamer-Herrmann
Operationalisierte Psycho dynamische Diagnostik (OPD), Manfred C. Cierpka, Michael Stasch, Tilman Grande, Henning S. Schauenburg, und der OPD-Arbeitskreis
Arzt-Patient-Gespräch
Erkenntniswege im Erstgespräch, Karl Köhle
Anamnese und körperliche Untersuchung, Rolf H. Adler
Patientenzentrierte Kommunikation, Wolf Langewitz
Das Gespräch bei der Visite, Heidemarie Weber
Das Narrativ, Karl Köhle und Armin Koerfer
Psychologische Testverfahren, Philipp Yorck Herzberg und Elmar Brähler
VI Therapie
Früherkennung und Prävention, Manfred Cierpka, Matthias Franz und Ulrich T. Egle
Indikation zur Psychotherapie als Entscheidungsprozess, Horst Kächele und Hans Kordy
Allgemeine Prinzipien der Psychotherapie, Horst Kächele
Psychoanalyse und psychodynamische Psychotherapieverfahren, Paul L. Janssen
Kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte Therapieverfahren, Volker Köllner und Franziska Einsle
Psychoedukation, Kathrin Bernardy und Volker Köllner
Systemische Therapie und Familiendynamik, Werner Geigges
Suggestive und übende Verfahren, Walter Bongartz
Körperorientierte Psychotherapie, Frank Röhricht
Kreativtherapien
Kunsttherapie, Flora von Spreti und Philipp Martius
Musiktherapie, Hans Ulrich Schmidt und Horst Kächele
Placebo – Nocebo, Wolf Langewitz
Psychotherapie und Pharmakotherapie, Hans Peter Kapfhammer
Ergebnisforschung in Psychotherapie und Psychosomatik, Hans Kordy und Horst Kächele
Institutionalisierung
Psychosomatische Medizin in der Allgemeinarztpraxis – ein Überblick, Antonius Schneider und Joachim Szecsenyi
Integrierte Psychosomatik in der Allgemeinmedizin – ein Beispiel, Thomas Reimer
Der niedergelassene Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Nico Niedermeier und Irmgard Pfaffinger
Konsiliar- und Liaisondienste, Wolfgang Söllner und Barbara Stein
Integrierte stationäre Psychosomatik, Wolfgang Herzog und Michael Schwab
Stationäre Psychotherapie und Psychosomatik, Henning Schauenburg und Gerhard Hildenbrand
Tagesklinische Psychotherapie und Psychosomatik, Almut Zeeck
Psychosomatische Rehabilitation, Gerhard H. Paar, Heinz Rüddel und Susanne Grohmann
Selbsthilfegruppen, Jürgen Matzat
Klinik
Epidemiologie psychischer und psycho somatischer Störungen, Matthias Franz, Wolfgang Tress und Heinz Schepank
Depression, Angst und Anpassungsstörungen bei körperlichen Erkrankungen (Komorbidität), Gerhard Schüßler, Peter Joraschky und Wolfgang Söllner
Belastungsstörung, Anpassungsstörung und Posttraumatische Belastungsstörung, (PTBS), Andreas Maercker und Norbert F. Gurris
Selbstschädigendes Verhalten bei Abhängigkeitserkrankungen, Leo Hermle
Artifizielle Störungen, Annegret Eckhardt-Henn
Anorexia nervosa, Wolfgang Herzog, Beate Wild und Hans-Christoph Friederich
Bulimia nervosa, Jörn von Wietersheim
Sexuelle Störungen, Sophinette Becker und Herbert Gschwind
Dissoziative Störungen, Annegret Eckhardt-Henn
Konversionsstörungen, Rolf H. Adler
Angststörungen, Peter Joraschky und Katja Petrowski
Persönlichkeitsstörungen, Wolfgang Tress, Wolfgang Wöller und Johannes Kruse
Depression, Henning Schauenburg
Funktionelle Störungen – somatoforme Störungen, Wolf Langewitz, mit einem Teilbeitrag von Lukas Degen
Müdigkeit und das Chronic Fatigue Syndrome (CFS), Rolf H. Adler
Schwindel, Annegret Eckhardt-Henn
Tinnitus, Jörg Frommer und Michael Langenbach
Kopfschmerz, Anne Philippi, Claus Bischoff, Volker Köllner, und Harald C. Traue
Rückenschmerzen, Peter Keel
Fibromyalgie, Ulrich T. Egle und Ralf Nickel
Schlaf und Schlafstörungen, Martin Hatzinger
Metabolisches Syndrom – Grundlagen, Jörg M. Herrmann
Adipositas, Martina de Zwaan, Barbara Mühlhans und Stephan Herpertz
Diabetes mellitus, Johannes Kruse, Bernd Kulzer und Karin Lange
Hypertonie, Jörg Michael Herrmann, Heinz Rüddel und Wolf Langewitz
Koronare Herzkrankheit
Bio-psycho-soziale Aspekte zur Ätiologie und Pathogenese, Christian Albus und Christoph Herrmann-Lingen
Krankheitsverarbeitung und Psychotherapie nach Herzinfarkt, Christian Albus und Karl Köhle
Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen, Christoph Herrmann-Lingen und Christian Albus
Asthma bronchiale, Wolf Langewitz und Markus Solèr
Ulcera duodeni und ventriculi, Ottmar Leiß
Entzündliche Darmerkrankungen, Günter Jantschek
Chronische Polyarthritis, Wolfgang Eich
Endokrine Störungen, Johanna Klement, Kirsten Reschke, Achim Peters und Hendrik Lehnert
HIV-Infektion und AIDS, Elke Weinel
Onkologie
Psychische und soziale Faktoren bei der Entstehung und im Verlauf von Krebserkrankungen, Christoph Hürny und Reinhold Schwarz
Krebserkrankungen und Familie, Reinhold Schwarz und Alexandra Meyer
Sprechen mit unheilbar Krebskranken, Karl Köhle
Psychotherapie mit Krebspatienten, Wolfgang Söllner und Monika Keller
Palliativmedizin, Rainer Obliers und Karl Köhle
Allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie, Bernd Hontschik
Plastische Chirurgie und Dysmorphophobie, Uwe Gieler und Peter Joraschky
Orthopädie, Marcus Schiltenwolf
Anästhesie, Christoph Kindler und Christoph Harms
Frauenheilkunde, Mechthild Neises und Kerstin Weidner
Urologie, Ernst-Albrecht Günthert und Hans-Christian Drossel
Neurologie, Carl Eduard Scheidt
Dermatologie, Gerhard Schmid-Ott
Augenheilkunde, Hedwig-Josefine Kaiser, Carl Erb und Josef Flammer
Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Frank Rosanowski
Zahnheilkunde, Hans-Joachim Demmel und Friedhelm Lamprecht
Kinder- und Jugendmedizin, Dieter Bürgin und Barbara Rost
Gerontopsychosomatik, Gereon Heuft
Körperlich begründbare psychische Störungen, Ekkehard Gaus und Karl Köhle
Intensivmedizin, Hans-Joachim Hannich
Transplantation und Organersatz
Nierenersatz und Nierentransplantation, Alexander Kiss
Hämatopoetische Stammzelltransplantation, Norbert Grulke
Transplantation solider Organe: Herz, Lunge, Leber, Michael Langenbach
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Lehre in der Psychosomatik, Anne Werner, Jana Jünger, Stephan Zipfel und Christoph Nikendei
Die ärztliche Fort- und Weiterbildung: Deutschland, Schweiz und Österreich
Deutschland, Karl Köhle und Paul L. Janssen
Schweiz, Max Giger
Österreich, Hans-Peter Edlhaimb und Wolfgang Söllner
Aus- und Weiterbildung von Psychologen, Rainer Richter
Psychosomatische Begutachtung, Wolfgang Schneider
Qualitätssicherung, Stephan Kawski, Holger Schulz und Uwe Koch
Ausgewählte Literatur
Register
Thure von Uexküll
Filme, Texte, Töne, Bilder zu Uexküll Psychosomatische Medizin
Arzt-Patient-Gespräch
Erkenntniswege im Erstgespräch
Karl Köhle
Einleitung
Erkenntnistheorie und Patientenbeteiligung
Wege zur Integration in der Praxis
Zusammenfassung
Anamnese und körperliche Untersuchung
Rolf H. Adler
Einleitung
Interviewschema
Schwierigkeiten der Interviewtechnik
Interview und Interpretation
Wissenschaftliche Erfassung der Arzt-Patient-Beziehung
Der Lehrer der psychosomatischen Medizin
Psychische Aspekte der körperlichen Untersuchung
Anmerkungen zum praktischen Untersuchungsablauf
Patientenzentrierte Kommunikation
Wolf Langewitz
Einleitung
Konkrete Gesprächstechniken
Arztzentrierte Kommunikation
Evaluationsforschung in der Arzt-Patient-Kommunikation
Anamneseschema und Gesprächstechniken
28.4 Das Gespräch bei der Visite
Heidemarie Weber
Einleitung
Die Visite im Krankenhausalltag
Ergebnisse des Basler Visitenprojekts
Konsequenzen aus dem Basler Visitenprojekt
Ausblick
Erkenntniswege im Erstgespräch
Karl Köhle
Einleitung
Das Gespräch während der ersten Begegnung prägt die Beziehung zwischen dem hilfesuchenden Patienten und seinem Arzt. Uns Ärzten dient das Erstgespräch über die Beziehungsaufnahme hinaus als wichtigste diagnostische Prozedur: In der Praxis gewinnen wir mit ihr 60–80 % der für die Diagnosestellung erforderlichen Daten (Hampton et al. 1975; Sandler 1980; Kassirer 1983). Das Bedürfnis unserer Patienten nach einem angemessenen Gespräch ist ausgeprägt: Auf Platz 1 einer in acht europäischen Ländern erhobenen Wunschliste von Hausarztpatienten steht das Gespräch mit ihrem Arzt (Grol et al. 1999).
Erkenntnistheorie und Patientenbeteiligung
Der Arzt muss mit dem Kranken selbst sprechen“, um alles zu erfahren, „was für die Erkennung der Krankheit wichtig ist.“I.B. Montanus (posthum 1599)
Erst mit Beginn neuzeitlicher wissenschaftlicher Medizin wird Patienten die Fähigkeit zugesprochen, zum ärztlichen Erkenntnisprozess beitragen zu können. 1603 erschienen zwei Monographien
zur gezielten Erhebung der Anamnese („Methodus interrogandi aegrotos“); Boerhaave stellte seinen klassischen Krankengeschichten die „Narratio“, eine chronologisch geordnete Anamnese, voran (Herrlinger 1971). Den Makel „unsicher, weil subjektiv“ verlieren Patientenmitteilungen allerdings erst mit dem Wechsel auch der Heilkunde vom traditionellen zum konstruktivistischen Realitätsverständnis und der Einführung der Systemtheorie (Kap. 1 und Kap. 8). Für die klinische Arbeit im bio-psycho-sozialen Modell benötigt der Arzt Kenntnisse auch über die Alltagswelt seiner Patienten und über die jeweils individuelle Bedeutung berichteter belastender Ereignisse und Erlebnisse. Eine wissenschaft liche Betrachtung fordert jetzt, was bisher als „unwissenschaftlich“ ausgeschlossen geblieben war: unsere Fähigkeit zu intersubjektivem Verständnis auch als professionelles Erkenntnismittel zu schulen und in unserer Praxis einzusetzen (Kap. 8).
In einer „Integrierten Medizin“ nutzen wir zwei Erkenntniswege. Sie entsprechen den beiden Funktionsmodi unserer Kognitionssysteme, dem „paradigmatischen“ und dem „narrativen“ Modus (Bruner 1986, 1990, 2002). Diese beiden Modi ermöglichen es uns auf unterschiedliche Weise, unsere Erfahrungen zu ordnen, unsere Realität zu konstruieren. Ihre Operationsprinzipien und Verifikationsprozeduren unterscheiden sich so grundlegend, dass sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen.
Das Narrativ
Einleitung
Definition
Komposition
Transformation: Von der Chronik zum Narrativ
Dramaturgie: Vom Referieren zum Evaluieren
Verlaufsformen
29.4 Funktionen
Selbstgefühl stabilisieren
Vergangenes vergegenwärtigen
Erzählen als Ko-Konstruktion
Epistemologische Entscheidung: Narrativ statt Bericht
Konversationsbedingungen
Semiotische Arbeit in ärztlicher Diagnostik
Fragmente zu Ganzem verbinden
Unsagbares in seinem Fortwirken verstehen
„Vergessenes“ wieder auffinden helfen
Einleitung
„Nur Anekdoten und Geschichten“ – mit dieser Bewertung der „biographischen Anamnese“ irritierte mich (KK) eines Morgens im Jahre 1968 ein Kollege der internistischen Aufnahmestation. Ich schlug ihm vor, den nächsten neuen Patienten gemeinsam zu untersuchen. Der 60-jährige Kranke war nachts mit den Zeichen eines akuten Herzinfarkts aufgenommen und versorgt worden. Auf meine vorsichtige Frage nach seiner Lebenssituation blickte er mich zugleich erstaunt und traurig an: Am Vortag habe er sich aus der „Handwerksrolle“ streichen lassen. Mit seiner vom Vater übernommenen Korbfl echterei habe er sich trotz maximaler Anstrengung nicht mehr gegen Billigimporte behaupten können. Der Wahlspruch des Vaters, „Handwerk hat goldenen Boden“, habe so für ihn leider seine Gültigkeit verloren. Wir spürten tiefe Niedergeschlagenheit und Resignation. In nur drei Minuten vermittelte uns der Patient, in welch krisenhaft er Lebenssituation er krank geworden war: Trotz intensivem Bemühen war es ihm nicht gelungen, die „Passung“ (Kap. 8) zwischen seiner berufl ichen Aktivität und den ökonomischen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Er war mit der vom Vater übernommenen Wertordnung gescheitert, seine Realitätskonstruktion hatte sich in der veränderten wirtschaftlichen Situation als nicht mehr „viabel“ erwiesen (Kap. 8; Liszka 1989: 15 und 110). Uns schien evident
zu sein, dass der vom Patienten angebotene Einblick in seine individuelle Wirklichkeit für die weitere Planung seiner Therapie und Rehabilitation relevant war.
In der klinischen Arbeit erhalten wir solche „data“ (Kap. 28.1) in Fülle – wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen. Es gelingt leichter, das oft komplexe Angebot der Patienten zu nutzen, wenn wir unsere schon mit der Sprachentwicklung erworbene und im Alltag ständig erprobte narrative Kompetenz (Hutto 2008) für unser professionelles Verstehen und Handeln zusätzlich schulen.
Definition
Narrativ leitet sich von lat. „narrare“, erzählen, her. Die römische Rhetorik erörterte „narratio“ vor allem im Blick auf die Selbstdarstellung vor Gericht. Mit „narrare“ verwandt ist „gnarus“ – von der indogermanischen Wurzel „gna“ oder „jna:na-“ Inzwischen wurden die Folgen berufl icher „Gratifi kationskrisen“ und depressiver Störungen für den Krankheitsverlauf von Koronarpatienten differenziert evaluiert. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie berücksichtigt sie in ihren Leitlinien, und die Fortbildungsakademie der Gesellschaft bietet ein Trainingsmodul an, das entsprechende diagnostische Fähigkeiten vermittelt analog: psychische Komorbidität bei Diabetes mellitus, im Sanskrit. Es gehört zur Wortfamilie „cognoscere“, aus der sich auch „Kognition“ ableitet. „Narrare“ hat so einen Bezug zu „wissen“, „vertraut sein mit“, „Experte sein für“. „Erzählen“ bezeichnet eine refl exive Aktivität, die vorausgegangenen Ereignissen oder Handlungen gilt (Turner 1981: 163f; Prince 2003: 39).
Die Narratologie ist heute eine „kulturwissenschaft liche Schlüsseldisziplin“ (Vogt 2008: 12). Unter Narrativ versteht sie ein Schema der mündlichen oder schrift lichen Darstellung, „das in allen Kulturen für die Ordnung von Erfahrung und Wissen grundlegend ist“ (Stierle 1984: 396). Narrative repräsentieren und präsentieren ein Ereignis oder eine Ereignisfolge in einer spezifi schen Diskursform (Abott 2009). Sie ermöglichen den Aufbau und die Fortschreibung mentaler Modelle der Welt und dienen damit dem Passungsprozess des Individuums mit seiner Umwelt. Der Erzähler (narrator) überführt Ereignisse und Handlungen (story oder Chronik) mithilfe kognitiver Operationen in einen Diskurs (narrative discourse): Story/Chronik enthält das Was, „discourse“ bezieht sich darauf, wie die Geschehnisse semiotisch komponiert und vermittelt werden: aus welcher Perspektive, in welcher wechselseitigen Bedingtheit, geordnet nach Relevanzgesichtspunkten in Form einer Geschichte, in einem bestimmten Stil, mit spezifischen Ausdrucksmitteln. Erzählungen haben die Funktion, Geschehnisse zu bewerten, erwartungswidrige Erlebnisse zu verarbeiten und zu kommunizieren und schließlich auch, einer Abfolge von Ereignissen und Handlungen Sinn zu verleihen: “turning happenings into meanings” (Spence 1984; vgl. auch Schapp 1953; Herman 2004, 2008; Liszka 1989; Stierle 1984; Shen 2008;).
Die Geschichte der Narratologie beginnt mit Platons „Staat“ und Aristoteles‘ „Poetik“. Beide beschreiben den repräsentativen Charakter der Erzählung („Mimesis“), Aristoteles erläutert bereits kognitive Prozeduren, die Ereignisse in sprachliche Kunstwerke überführen. Eine zentrale Rolle kommt dabei der „Zusammenfügung der Geschehnisse“, der Transformation von Ereignissen und Handlungen (Chronik) zum Diskurs zu. Die Begründer der modernen empirischen Narratologie, die russischen Formalisten, insbesondere V. Propp (1928), und die französischen Strukturalisten (R. Barthes, C. Bremond, G. Genette und A.J. Greimas) differenzierten und spezifizierten die in der literarischen Gestaltung eingesetzten Transformationsprozesse.
Nachdem moderne Aufzeichnungstechnik die empirische Untersuchung auch mündlicher Erzählungen (Labov und Waletzky 1967; Ehlich 1980) ermöglicht hatte, erreichte der „narrative turn“ nach den Humanities (Kreiswirth 2008) schließlich auch die Medizin.
3fn
Palliativmedizin
Einleitung
Definition und Aufgaben
Lebensqualität in der Palliativmedizin
Die subjektive Welt der Patienten
Methodische Herangehensweise
Didaktisches Angebot
Themenschwerpunkte und Patientenbeispiele
Lebensrückblick als Ressource – das weitgehend erfüllte Leben
Leben zu kurz – die großen Reste des ungelebten Lebens
Enttäuschung vom Leben
Kämpfen – zwischen aktiver Bewältigung und Verleugnen der Gefahr
Schmerzen – als alles dominierendes Leid
Nur noch krank – als alles dominierendes Thema
Zusammenfassung und Empfehlungen
Einleitung
Mit der Entwicklung der Palliativmedizin antwortete die Medizin auf eine soziale Krise: Während mit den Erfolgen der kurativen Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits die Hoffnung auf Hilfe auch für bisher nicht mehr behandelbare Patienten wuchs, verringerten sich andererseits in den Familien die Betreuungsmöglichkeiten für zum Tode Kranke und Sterbende drastisch. Ihre Versorgung wurde in bisher nicht gekanntem Ausmaß ins Krankenhaus verlagert, ohne dass dort die äußeren Bedingungen und die Kompetenz der Mitarbeiter dieser anspruchsvollen und belastenden Aufgabe ausreichend angepasst werden konnten. Während viele Betroff ene und Beteiligte noch die hieraus resultierenden Defizite beklagten, initiierte 1967 die Ärztin, Krankenschwester und Sozialarbeiterin Cicely Saunders (1918–2005) mit der Gründung des St. Christopher’s Hospice in London eine Antwort, die sich langfristig als fruchtbar erwies. Ihr Ziel war es, in einer hospice medicine die unzureichende Behandlung von Schmerzen und anderen Symptomen zu verbessern, darüber hinaus aber auch Raum zu schaff en (provide space) für persönliche Entwicklung: für die Refl exion der Biographie, die Auseinandersetzung mit noch Unerledigtem, insbesondere mit Beziehungsproblemen, Raum auch für die Klärung von Sinnfragen und fürs Abschiednehmen (Borasio 2008). Nach anfänglichem Widerstand gegen die Ausgliederung von „Sterbekliniken“ gelingt es der Palliativmedizin inzwischen zunehmend, sich als eigenständiger Arbeitsbereich in den Fächerkanon der Medizin zu integrieren.
Definition und Aufgaben
Die Bezeichnung Palliativmedizin (lat. pallium, Mantel) wurde 1975 von Balfour Mount geprägt, der als Urologe und Onkologe am Royal Victoria Hospital der McGill University in Montreal die erste Palliativstation in einem Akutkrankenhaus einrichtete. Die Aufgaben definieren die WHO und die European Association for Palliative Care (EAPC) gleichsinnig: Palliativmedizin bezeichnet „die aktive und umfassende Betreuung von Patienten, deren Erkrankung nicht auf kurative Behandlung anspricht.“ Die „Kontrolle von Schmerzen und anderen Symptomen sowie von sozialen, psychologischen und spirituellen Problemen hat Vorrang, Ziel ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität bis zum Tod“ (Radbruch et. al. 2007).
Die meisten Palliativstationen und Hospize in Deutschland behandeln derzeit ganz überwiegend Krebskranke. Dringend benötigt werden entsprechende Einrichtungen aber auch für andere Gruppen, u. a. für Patienten mit Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems. Die klinische Arbeit beinhaltet etwa zu gleichen Teilen Symptomkontrolle und psychosoziale Begleitung. „Symptomkontrolle“ gilt vor allem Schmerzzuständen, Atemnot und gastrointestinalen Beschwerden, ebenso aber auch der häufig nicht erkannten Depression und terminalen Verwirrtheitszuständen (Borasio und Volkenandt 2008).
Organisatorisch orientiert sich das Fach am Ideal einer auf den Patienten und seine engsten Bezugspersonen ausgerichteten Versorgungskette (unit of care), in die Hausärzte und soziale Einrichtungen einbezogen sind. In Deutschland soll künftig die Versorgung Schwerkranker und Sterbender in einen allgemeinen (etwa 90 %) und einen spezialisierten Bereich gegliedert werden (Voltz 2008).
Die spezialisierte stationäre Versorgung erfolgt durch in Krankenhäuser integrierte Palliativstationen und durch (meist) eigenständige Hospize; Konsultations-/Liaisondienste beraten die Stationen anderer Fächer. Ambulant können Patienten in Tageshospizen und von ambulanten Hospiz- und Hausbetreuungsdiensten versorgt werden. 2006 waren in Deutschland bei sehr ungleicher regionaler Verteilung im stationären Bereich ca. 40–50 % des Bedarfs durch 126 Palliativstationen und 142 Hospize mit insgesamt 2.218 Betten gedeckt. Zum gleichen Zeitpunkt waren 753 ambulante Palliativdienste eingerichtet (Sabatowski und Graf 2007).
Palliativmedizin hat primär ein humanitäres Anliegen. Effektive Symptomkontrolle und die Vernetzung ambulanter Dienste können aber auch zu einer Kostenbegrenzung beitragen, soweit sie die häusliche Versorgung terminal Kranker unterstützen. Multiprofessionelle Kooperation ist in der palliativen Versorgung unabdingbar. Dem Team sollten neben Pfl egedienstmitarbeitern und Ärzten auch Sozialarbeiter, Seelsorger, Kunsttherapeuten und Laienhelfer angehören. Die komplexe und belastende Aufgabe erfordert kompetente Supervision.
Da der Umgang mit zum Tode Kranken und Sterbenden in den meisten Fachgebieten zur ärztlichen und pflegerischen Basistätigkeit gehört, hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin ein Weiterbildungscurriculum entwickelt. Gebietsärzte können seit 2003 die „Zusatzqualifikation Palliativmedizin“ erwerben.
Mit ähnlicher Zielsetzung beteiligt sich die Palliativmedizin zunehmend auch an der Ausbildung der Studierenden. Bisher unterstützte vor allem die Deutsche Krebshilfe die Einrichtung von Lehrstühlen an den medizinischen Fakultäten in Aachen, Bonn, Göttingen, Köln und München sowie die Durchführung vielfältiger Forschungsprojekte.
Das Fachgebiet Psychosomatik und Psychotherapie kann zu beiden Aufgabenbereichen der Palliativmedizin, zu Symptomkontrolle und zum Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität Beiträge leisten. In Kapitel 101 stellen wir Diagnostik und Therapie für Patienten dar, die im psychischen Bereich als Folge körperlicher Beeinträchtigung Symptome entwickeln (vgl. auch Chochinov and Breitbart 2009). Das vorliegende Kapitel gilt der Einschätzung und Förderung der Lebensqualität
im Rahmen der palliativmedizinischen Versorgung.